Wo die Herzen beginnen, Gedanken zu haben, werden
Denkmodelle wie der kabbalistische Lebensbaum zu Kontemplationen herangezogen,
um die kosmischen Gesetze zu verinnerlichen und die eigene Psyche mit dem
überweltlichen Geist abzustimmen. Die zehn Sephiroth müssen von oben nach unten
gelesen werden. Was in der Dimension des
Himmels in feiner Schwingung angelegt ist, verdichtet sich stufenweise nach
unten in die irdische Manifestation. Von der Erdenwurzel aus eröffnen sich die
Pfade der Weisheit, die den erneuten Aufstieg des Bewusstseins ermöglichen. Das
beste Verständnis für den Plan Gottes bringt das Vorlesen der hier verfügbaren
Texte mit sich. Auf quinque-bibliothek.de lässt sich derselbe Inhalt als Lesung
des Schauspielers Christoph Quest herunterladen. Die hier aufgeführte Betrachtung des
kabbalistischen Lebensbaumes lebt von Zuordnungen, wie sie ursprünglich
überliefert worden sind. Es war das große Verdienst des Autoren und
Seminarleiters Hans-Dieter Leuenberger (1931-2007), alle Neuerungen des Golden
Dawn (1888-1903) wieder in das Traditionelle zurückzuführen, was mir in den
achtziger Jahren, als ich seine Kurse besuchte, sehr einleuchtete, wie z.B. die
Tatsache, dass der Erzengel Michael auf Tiphareth gehört und der Erzengel
Raphael auf Hod. In der Bibliographie am Ende des Buches können Sie Bücher von
Hans-Dieter Leuenberger finden.
Gabriele Quinque ist Autorin und Seminarleiterin. Ihre
Bücher, Mysterienspiele, Artikel, Seminare und Vorträge bringen Suchenden die
abendländische Mystik nahe. Seit 1989 begleitet sie Klienten in dem von ihr für
die heutigen Bedingungen als Trancearbeit konzipierten Tempelschlaf. Auf der
Grundlage langjähriger Erfahrungen in Initiatenorden wurde sie 2000
Gründungsmitglied des „FMG-Förderkreis für Mythologisches Gedankengut e.V.“,
der sich die Aufgabe stellt, tradierte Mythen zu bewahren und die Weisheit der
Älteren Brüder im dazugehörigen Templum C.R.C. (www.templum-crc.de) durch das Gradsystem
in der Tradition der Gold- und Rosenkreuzer lebendig zu halten.
Leseprobe:
(...) In der gesamten Schöpfung kehrt nichts in die
Einheit zurück, das nicht vorher am äußersten Punkt der Verdichtung angekommen
ist. Als Konsequenz einer keimenden Dualität erfolgte die Vertreibung aus dem
Paradies. Dies klingt wie eine Strafe, wäre da nicht die Erteilung des Freien
Willens als Geschenk Gottes an den Menschen. Das größere Unglück für Adam und
Eva hätte darin bestanden, im Garten Eden auch noch die Früchte von dem Baum
des ewigen Lebens zu essen. Dann hätten sie für immer halbbewusst im Paradies
verweilen müssen und würden nicht in den Schoß der Gottheit heimkehren können.
Wegen der genossenen Frucht von dem Baum der
Erkenntnis, kann der Mensch auf seinem langen Weg durch die Stufen der
Schöpfung tatsächlich erkennend werden und eines Tages aus Freiem Willen den
Entschluss fassen, zu Gottvater zurückzukehren. Für diesen Rückweg schuf die
jüdische Mystik den Lebensbaum, der nun in der Literatur kurz Etz Chaim
genannt wird und die Emanationen der Gottheit in strukturierter Ordnung
aufzeigt. Zu seiner größten Herrlichkeit ersteht der Baum des Lebens in der
christlichen Offenbarung des Johannes auf. Dort bildet er neben Gott selbst den
Mittelpunkt des Neuen Jerusalem. In der siebten Seligpreisung heißt es: „Selig,
die gewaschen haben ihre Kleider, damit ihnen zuteil wird ein Recht an dem Baum
des Lebens und sie einziehen zu den Toren der Stadt.“ (Offb 22,14)
Als Wegweiser zu den
segensreichen Weltbildern kosmischer Wahrhaftigkeit steht uns der
kabbalistische Lebensbaum zur Verfügung. Die Betrachtung und die meditative
Verinnerlichung dieses Denkmodells lassen den Mystiker unweigerlich religiös
werden. Religion ist Rückbindung an den Göttlichen Ursprung. Religion fördert
weder gutes Benehmen, noch dient sie einem persönlichen Vergnügen oder
materiellem Zugewinn. Religion will ein sinnvoller Leitfaden sein, um
Einsichten zuwege zu bringen, die eine Befreiung des Menschen aus den Fängen
der Widersacher ermöglichen. In ihren Gleichnissen stellt die Religion viele
Beispiele für die Erhebung der Seele zur Verfügung. Wie das Schiff bei Nacht
einen Leuchtturm braucht, um sich in rechter Weise dem Hafen zu nähern, so
bedarf ein Erdenbürger der religiösen Anleitung. Ohne diesen Segen kommt
niemand in die Freiheit und geht keiner in den himmlischen Frieden ein.
Der Auftrag aller Religionen besteht darin, die um Erlösung bittende
Gemeinde in ihrem Streben nach oben zu unterstützen. In jeder Religion erfährt
der Erdenmensch, wie er von Gott oder den Göttern bzw. Titanen erschaffen wurde
und dass eben diese himmlische Väterlichkeit nichts sehnlicher wünscht als
seine Heimkehr. Es wird stets betont, unterstützend für die Erhebung der Seele
sei der göttliche Funke, der ihr innewohne. Der erfahrene Rosenkreuzer nennt
diesen Funken den Gott meines Herzens. Sobald dieser innere Funke an seine
absolute Heiligkeit erinnert wird, entfacht er sich selbst zum Feuer der
Begeisterung. Besonders intensiv geschieht dies, wenn der Mensch sich
klopfenden Herzens in feierliche Riten der Verehrung einbinden lässt. Sakrale
Handlungen werden im Judentum in Synagogen, im Christentum in Kirchen und in
der Mystik in Tempeln zelebriert. Es sind diese Rituale, die den Göttlichen
Funken in stetig gelindem Feuer halten.
Wie die Thora, so wird auch der
kabbalistische Lebensbaum als ein Modell der Welt in ihren sichtbaren und
unsichtbaren Anteilen verstanden. In weniger metaphorischer Gestalt als die
Thora selbst, enthüllt er die Struktur der Schöpfung und veranschaulicht Fall
und Aufstieg allen Seins in einer geordneten grafischen Darstellung. Die
omnipotente Existenz und die Unfehlbarkeit Gottes wird in der Kabbala
vorausgesetzt. Der Begriff Existenz leitet sich ab von dem lateinischen Wort existere,
in das Leben treten. Thelema, der
Göttliche Wille, ist es, der durch seine Schöpfung in das Dasein schreitet. Im
sakralen Verständnis dringt die Emanation Gottes wellenförmig aus der
Transzendenz in die Immanenz vor; sie bewegt sich gleichsam aus dem Mittelpunkt
der Verborgenheit an die Peripherie der Sichtbarkeit. Der Lebensbaum bildet
diesen Vorgang nicht von innen nach außen ab, sondern von oben nach unten. Oben
herrscht der Allerhöchste als Einheit, unten befindet sich die Vielheit.
Dazwischen dehnt sich eine Hierarchie aus, deren Aufgabe es ist, die
Manifestation in allen Welten, den sichtbaren und den unsichtbaren, mit dem
höchsten Willen zu temperieren. Auf diese Weise werden unablässige
Kurskorrekturen durchgeführt, die nicht immer friedlich verlaufen. Alles Leid
des Irdischen findet seine logische Erklärung in solchen Revisionen.
Was prinzipiell oben in der
Dimension des Himmels geschieht, geschieht auch unten, es setzt sich
stufenförmig fort. Unterschiede existieren nur in den Graden zunehmender
Verdichtung von oben nach unten. Der oberste Bereich bildet die höchstmögliche
Seinsform in feinster Schwingung, das Ende befindet sich unten in der
niedrigsten und gröbsten Schwingung. Der Erdenmensch wohnt ganz unten in der
Dichte materieller Vielheit, aber seine Seele besitzt Anteil an allen Graden
der Schwingung, auch an der höchsten. Deshalb besteht die Sehnsucht nach einer
Erhebung der Schwingung auf eine höhere, feinere Ebene. Stets blickt jeder
Mensch gern hinauf, denn er ahnt über sich das Schöne!